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Das Zwergenei 2

von Sonja Kehlbach
Dichter Nebel lag über und unter den hohen Baumwipfeln von Düsterwald und machte diesem Namen im Morgengrauen alle Ehre. Die Welt hatte sich weitergedreht, doch die Ereignisse gingen selbst an diesem Wald nicht vorüber. Kompromisse waren in den vergangenen drei Jahren geschlossen worden, die das Zusammenleben der Elben mit der gewachsenen Königsfamilie auf ein Maß minderer Unzufriedenheit begrenzt hatte. Doch nun war Ruhe eingekehrt im Wald und unter den ersten Sonnenstrahlen bewegte sich offensichtlich nur ein einziges Lebewesen...

Ein Vogel wagte es, leise zu zwitschern, legte dann den Kopf schief und lauschte seinem vermeintlichen Echo. Davon ermutigt plusterte er sich selbstgefällig auf und setzte zu seiner viel gelobten "Hymne an den Morgen" an, als ein urplötzlich heranzischender Stein das Vogelgefieder bis zum Anschlag knautschte und den empörten Vogel vom Ast schleuderte, worauf er sich schleunigst aus dem Staub machte.

Nun zerriss ein gellender Schrei der offensichtlich riesengroßen Wut eines verhinderten Jägers die Nebelschwaden. Und eine Gestalt, mehr breit als hoch, tapste aus einem nahen Gebüsch - die aufgehende Sonne im Rücken, so dass aufgewirbelte Blätter einen leuchtend grünen Kranz um sein Haupt bildeten, während der Unbekannte seine Axt hob und über seinen Kopf durch die Luft schwang.

Nur Sekunden später und nicht weit entfernt schreckte ein silberhaariger Elb aus dem Schlaf, verstörte Worte auf den Lippen. "Frevel!", keuchte er, völlig verwirrt, aber dennoch beinahe hellwach. Der richtige Wortzusatz fiel König Thranduil sofort wieder ein, als sein eben noch traumwandelnder Geist widerwillig in seinem Hirn Platz genommen hatte. "BAUMfrevel!!!", kreischte der König von Düsterwald, und dann: "Giiiimli!!!!".

Er hatte so laut und so wütend geschrieen, dass selbst noch in den äußeren Vierteln der Baumstadt verschreckte Elben von den Ästen fielen und nur in allerletzter Sekunde au fallen Vieren sicher landen konnten (diese Eigenschaft will ich nur jenen Elben zusprechen, die morgens zuverlässig mit einem Kater vom Red-Bullsh-Abend im Kreise der besten Freunde aufwachen...)

Nur wenig später nach dem monströsen Schrei schlug jemand die hölzerne Tür zu den königlichen Gemächern auf und schleuderte dadurch eine kostbare Vase an die Wand, was Thranduil mit einem empfindlichen Lidzucken notierte. Sein Sohn Legolas, als Prinz von Düsterwald geziemend mit einem lindgrünen, allerdings weitgehend hastig gebundenen Morgenrock bekleidet, stürzte herein.

Einige unauffällige Elben, die ihm direkt gefolgt waren, machten jedoch vor dem Schild, das Neugierigen das Betreten verbot, Halt, und drängten sich um die wenigen schalldurchlässigen Bereiche der Wohnwand, als Legolas hinter sich die Türe zuwarf.

Derweilen verging im königlichen Schlafgemach keine Sekunde: Verschlafen, wie er war, besaß Legolas dennoch genügend Feingefühl, um nicht zu fragen, weswegen sein Vater so gekreischt hatte, sondern stammelte: "Gimli?!! Wo ist...?? Was hast du...?!" Thranduil sprang leichtfüßig und mit einem Knurren in der Kehle aus dem Bett, zog die Lippen hoch, so dass sein spiegelblankes und nadelspitzes Gebiss zu sehen war, und brachte zwischen geschlossenen Zähnen und wutersticktem Keuchen immer nur dieses eine Wort heraus: "Baumfrevel!!".

Gleichzeitig vollbrachte er das Kunststück, den Impuls, seinem Sohn an die Kehle zu springen, zu einem Hüpfer in dessen Richtung abzumildern. "Dein ... Haustier hat es gewagt, eine Birke zu fällen - in MEINEM Wald!!", fauchte der König, und sein Zorn, der ihn wie eine Aura umgab, brach nun in hohen Wellen auf Legolas herein, der das jedoch aus Sorge um Gimli überhaupt nicht bemerkte.

Der Prinz murmelte etwas weitgehend Unverständliches - am Morgen war seine sprachliche Kompetenz immer ein wenig begrenzt - und wollte sich verdrücken, als von Thranduil plötzlich nur noch ersticktes Keuchen und Röcheln zu hören war. Rasch verabreichte Legolas ihm zwei Schübe des königlichen Asthmasprays uns schlich dann zur Tür hinaus, um seinen verloren gegangenen Ziehsohn zu suchen...


© by Sonja Kehlbach